Der alte Mann, nein, nennen wir ihn lieber den „älteren Herrn“, nicht, weil er ein Herr im landläufigen Sinne war, sondern, weil er es sich mit seiner Gutmütigkeit und Friedfertigkeit verdient hatte, „älterer Herr“ genannt zu werden, schaute noch einmal in die Wohnküche und das Schlafzimmer seiner kleinen Zweizimmerwohnung zurück.
Nicht, weil er befürchtete, etwas vergessen zu haben – zum Beispiel eine brennende Kerze auszupusten – sondern weil es in den zurück liegenden vierzig Jahren des Alleinelebens zu einer Art Reflex geworden war.
Als er alles für gut befunden hatte, zog er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und schaute auf das alte Klingelschild, das an der Seite der Tür hing:
„Edmund Weber“.
Den Reflex, mit einem Finger darüber zu streichen, um den darauf liegenden Staub zu entfernen, hatte er sich erst in den letzten fünf Jahren angeeignet.
Notgedrungen, denn im Laufe dieser Zeit waren die Sequenzen der Zeiträume zwischen den Putztätigkeiten im Hausflur und dem daraus resultierenden Staubbefalls immer größer geworden.
Ein weiterer Reflex äußerte sich in dem Ausspruch „früher wurde auch mal mehr geputzt“, den er mittlerweile in diesen Situationen leise vor sich hin sagte. Am Anfang hatte er es noch relativ laut gesagt, in der Hoffnung, dass es die Nachbarn hinter den Türen hören und dann häufiger putzen würden.
Doch von Jahr zu Jahr, in der es hierauf keine erkennbaren Reaktionen gab, wurde es mehr zu einem Bestandteil seiner allgemeinen „Scheißegal“-Haltung, sich nur noch dieser leisen, eher in sich gekehrten, Beschwerde hinzugeben. Bot der relativ stumme Protest ja auch insofern Vorteile, als Herr Weber aus der Nichtreaktion seiner Mitbewohner dieses Mietshauses mittlerweile das Recht ableitete, selber auch nicht mehr putzen zu müssen.
Herr Weber schloss den Reißverschluss seines Anoraks auf den letzten Metern des Flures, kurz bevor er die Haustür erreichte. Darunter trug er einen einfachen anthrazitfarbenen Anzug, den er schon seit einigen Jahren besaß und den er zur Beerdigung eines sehr guten Freundes gekauft hatte.
Wer seine Kleidung genau betrachtete sah, dass sie in den zurück liegenden Jahren durch häufiges Tragen gelitten hatte. Aber trotzdem verlieh sie ihm eine gewisse Würde – oder war es eher umgekehrt? 🤔
Als er das Haus verließ und auf den Bürgersteig der ansonsten stark befahrenen Straße trat, sog er die kalte Nachmittagsluft in seine Lunge ein.
Er war froh, dass der Verkehr sich ein wenig beruhigt zu haben schien und die Atemluft mittlerweile etwas weniger benzingeschwängert war, als üblich. In dieser Stadt, die zu klein war, um eine wirkliche Großstadt zu sein, aber groß genug, um keine kleine Stadt zu sein, sehnte er sich manchmal in jene Zeiten zurück, in denen er noch in ländlicheren Gefilden wohnte.
Manchmal! Denn er hatte längst erkannt, dass er bei seinem bewusst gewählten Lebensstil mit zunehmendem Alter die Vorteile der Kommunikations- und Logistikstrukturen eines städtischen Umfeldes von Jahr zu Jahr mehr zu schätzen wusste.
Allein die Tatsache, dass er nur in einen Bus oder eine U-Bahn zu steigen brauchte, um innerhalb sehr kurzer Zeit Orte zu erreichen, an denen er seine unmittelbaren Bedürfnisse stillen konnte, wog in den zurück liegenden Jahren alle eventuellen Nachteile eines Stadtlebens auf.
Ein wesentliches seiner Basisbedürfnisse war es, unter Menschen zu sein. Dazu musste er aber erst einmal zu den Menschen gelangen. Und zwar nicht zu irgendwelchen Menschen, sondern zu solchen Menschen, mit denen er sich wohl fühlen konnte. Menschen, die sein Alter wenigstens respektierten, wenn sie schon nicht selber so alt waren, wie er selbst.
Von Letzteren waren ihm immer weniger geblieben. Und von denen, die es noch gab, gab es immer weniger, die an Körper und Geist noch so frisch waren, wie er sie sich wünschte, damit sie ihm gute Gesprächspartner sein konnten. Dort jedenfalls, wo er wohnte – oder sagen wir besser, wo er es sich leisten konnte, zu wohnen – gab es schon lange niemanden mehr, mit dem er seine Freizeit verbringen konnte oder wollte. So musste er also zu denen hin, die woanders waren.
Aus diesem Grund stieg Edmund Weber auch an diesem Tag in einen Bus, der nur etwa 200 Meter entfernt von seiner Wohnung hielt. An Heiligabend fuhren nicht mehr ganz so viele Busse und Bahnen, wie an normalen Tagen.
Aber er hatte den Fahrplan genau studiert und wusste genau, wann er wieder zurück fahren musste, damit er später nicht in die Situation kommen würde, dass er für seinen Heimweg möglicher Weise ein Taxi nehmen müsste.
Seinen persönlichen Fahrplan für den Rest des Tages hatte er selber entworfen und er war sich sicher, dass er diesen minutiös einhalten würde.
Eigentlich waren solche Fahrpläne niemals Bestandteile seines Lebens gewesen. Irgendwie war Edmund von je her so eine Art Lebemann, der sich durch das Leben leiten ließ und der dem Leben nur selten seinen eigenen Rhythmus aufzudrücken versuchte.
„Dem Leben seinen Rhythmus vorzugeben funktioniert sowieso nicht!“, glaubte er eines Tages erkannt zu haben und machte sein daraus abgeleitetes Verhalten fortan zu seiner Maxime. Und damit war er seitdem überwiegend gut gefahren.
Dass er für diesen Tag, für diesen Heiligabend, einen eigenen Fahrplan erstellt hatte, mit dem er den Ablauf präzise bestimmen wollte, passte zu der Außergewöhnlichkeit, ja Einmaligkeit, dieses Tages. 😎
Der Plan war in den letzten Wochen entstanden und er hatte ihn Tag für Tag perfektioniert. Jedes Detail dieses Planes hatte er bis zu diesem Moment, in dem er sich auf eine der Seitenbänke des Busses setzte, am heutigen Tage bereits abgearbeitet. Sogar der Busfahrer hatte mitgespielt, als Edmund ihm ein „Frohes Fest“ wünschte, während er das Wechselgeld fürs Ticket in seine Tasche steckte.
„Frohes Fest“ entgegnete der nämlich. Genauso, wie es Edmund vorhergesehen hatte.
Den wichtigsten Bestandteil seines Planes hatte Edmund aber bereits an diesem Morgen umgesetzt. Er hatte das Glas mit den Schlaftabletten, die er sich über mehrere Wochen von seinem Arzt verschreiben lassen hatte, feinsäuberlich, fast liebevoll, auf das Nachttischchen neben sein Bett gestellt.
Der Arzt hatte ihn gewarnt. „Aber nur eine einzige jeden Abend! Das wird reichen, um Ihre wochenlange Schlaflosigkeit zu besiegen.“
Edmund verkniff sich damals ein Schmunzeln. Sein Trick mit den Aufputschmitteln, die er über lange Zeit vorher genommen hatte, um wenig schlafen zu müssen, hatte gewirkt.
Und nun standen die Tabletten dort und würden auf seine Rückkehr warten! Sie sollten Weihnachten, das Fest der Liebe, als seine ganz besonderen und bewusst gewählten Begleiter mit ihm verbringen.
„Das Fest der Liebe“!
Nein, Edmund war ihm nicht gram! Im Gegenteil.
All die Jahre zuvor hatte er es genossen. Ohne Partnerin und Familie zwar, aber immer mit oder bei Freunden. Und er wollte keines der zurück liegenden Feste missen.
In diesem Jahr war aber alles anders.
Zwei weitere seiner Freunde waren im zurück liegenden Jahr gestorben. Und die paar, die übergeblieben waren, feierten mit ihren Familien und wohnten zudem nicht gerade um die Ecke. 😓
In dem Moment, als er die Ansage des Busfahrers „Nächster Ausstieg: Hauptbahnhof“ hörte und wusste, dass er gleich aussteigen musste, stellte er sich selber die Frage, die er von einigen seiner Freunde schon oftmals gehört hatte:
„Warum hast Du eigentlich keine Familie?“
Und er beantwortete sie sich mit denselben Worten, mit denen er auch ihnen immer geantwortet hatte:
„Weil es das Leben so wollte!“
Diese Frage hatten ihm im Übrigen irgendwann mal auch die übrig gebliebenen Freunde gestellt, die ihn auch zu diesem Weihnachtsfest wieder eingeladen hatten.
„Komm doch zu uns und feiere mit“, hatten Sie ihn aufgefordert. Doch im Gegensatz zu den vorherigen Jahren hatte er dieses Mal alle Einladungen ausgeschlagen. Er war einfach zu kraftlos für ein solches Unterfangen.
Nicht körperlich, aber im Kopf.
Zusammen mit seiner Absage hatte er aber den Freunden auch eine
glaubhafte Geschichte aufgetischt, was er denn an Heiligabend und an den
Feiertagen machen werde. Und dass er nicht erreichbar sei.
Damit sie nicht auf die Idee kämen ihn zu kontaktieren und sich Sorgen zu machen, wenn er sich nicht melden würde.
Alles schien wasserdicht vorbereitet.
Als er etwas mühsam aus dem Bus ausstieg – siebzig Jahre auf dem Buckel zu haben war kein allzu großes Zuckerschlecken – stellte er fest, dass um den Hauptbahnhof herum deutlich weniger los war, als an anderen Tagen, an denen er hier unterwegs war.
Die ersten Kirchenglocken läuteten deutlich vernehmbar und riefen zur Christmesse oder zum weihnachtlichen Gottesdienst. Und diejenigen, die deren Ruf nicht hörten, waren sicherlich überwiegend schon im Schoß ihrer Familien angekommen.
Nur ein paar Stadtstreicher durchwühlten Abfalleimer, in der Hoffnung, darin etwas zu finden, was als Ausschuss des letzten Schnelleinkauf-konsums des Vormittages darin für sie zurück geblieben war.
Sicheren, wenngleich müden Schrittes, steuerte Edmund Weber auf das Café dem Bahnhof gegenüber zu. In letzter Zeit ging er in ein Café, nicht mehr in eine Kneipe, wie noch vor ein paar Jahren.
Irgendwann in der dazwischen liegenden Zeit hatte er zu
glauben begonnen, dass es weder seinem Alter, noch seinem
Gesundheitszustand angemessen war, in eine Kneipe zu gehen.
Und
dieses Café hier, in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs, wo das Leben
mehr pulsierte, als anderswo, war für ihn ein guter Kompromiss.
Schon vor Wochen hatte er sich bei dem netten Mädchen hinter der Theke darüber informiert, wie lange das Lokal denn am Heiligen Abend geöffnet sei. Er hatte in einer Zeitung gelesen, dass alle anderen für ihn erreichbaren Cafés an diesem Tag spätestens um 16 Uhr schlossen. Deshalb wollte er sich versichern, dass ihm das in diesem Café hier nicht passieren würde.
„Sie können gerne bis 19 Uhr kommen“, sagte die junge Dame, die aus Sicht eines 70-jährigen deutlich hübscher erscheinen mochte, als sie von der überwiegenden Vielzahl ihrer Altersgenossen wohl gesehen wurde.
„Ich bleibe mit Ihnen dann gerne noch bis 20 Uhr. Schließlich ist dann ja Heilig Abend!“
Sie kannte ihn von seinen wiederkehrenden einsamen Besuchen bereits und blinzelte ihm zu. „Danach muss ich den Laden aber schließen. Das will der Besitzer so.“
„So lange sind Sie am Heiligen Abend noch hier? Haben Sie denn keinen Freund“, fragte Edmund sie, „keine Familie?“
„Doch schon“, antwortete sie. „Aber im Moment kriselt es an allen Ecken und Enden. Und bevor ich am Heiligabend ganz alleine zu Hause sitze, weil sich der Idiot vielleicht bis dahin von Dannen gemacht hat, habe ich mich lieber für die Spätschicht eingetragen. Und, um ganz ehrlich zu sein: Irgendwie brauche ich auch das Geld ganz nötig! Und für Heiligabend gibt es nen satten Zuschlag!“
Edmund Weber musste schmunzeln. 20 Uhr war ein ausgezeichneter Zeitpunkt, dachte er. Der letzte Bus würde ihn um 20 Uhr 20 nach Hause fahren.
Alles passte perfekt in seinen Plan.
„Es wird mir eine Ehre sein, diesen Abend in Ihrer Nähe zu verbringen“, sagte Edmund so charmant, wie er konnte.
In „Frauendingen“ war er nie der große Zampano gewesen, aber für eine schöne Konversation mit einem netten Mädel hatte es noch immer gereicht.
Sie lächelte ihn an. In einer Art, die nahe legte, dass sie nicht sehr oft Komplimente von Männern irgendeinen Alters erhielt. „Angenehm, Linda“ sagte sie und reichte ihm zum Abschied die Hand.
„Ich weiß“, antwortete er und deutete mit seinem Finger auf das Namensschildchen, das an ihrer Arbeitskleidung geheftet war. Mit einem Lächeln verließ er das Café, nachdem sie ihm noch zugerufen hatte, dass sie sich am Heiligen Abend auf ihn freuen würde.
Erst als er in den Bus einstieg, fiel ihm auf, dass er es versäumt hatte, ihr auch seinen Namen zu sagen. Aber zu diesem Zeitpunkt war er schon längst mit der Überlegung beschäftigt gewesen, seinen Plan in einem, wenn auch für das Gesamtgelingen unwichtigen, Punkt zu ändern:
In diesem Moment nahm er sich vor, dass er sämtliches Geld, das er besaß, zusammen kratzen würde, um es ihr am Heiligen Abend zu schenken. Sie würde sich sicherlich unendlich freuen und er selbst würde es nach diesem Abend eh nicht mehr brauchen.
An diese Konversation erinnerte sich Edmund, als er nun die Tür des Cafés öffnete. Mit einem Griff an seine Gesäßtasche vergewisserte er sich, dass der Umschlag, der 1200 Euro enthielt – es war alles, was er besaß – noch an seinem Platz war.
Die Räumlichkeiten waren in Schummerlicht getaucht. Die Beleuchtung war auf ein Minimum reduziert, und als wesentliche Lichtquellen dienten einige wenige Kerzen, die auf den Tischen standen.
Mit einem freundlichen „Hallo“, begrüßte er Linda, die hinter der Theke stand, in einem Zustand seltsam überschwänglicher Erregung.
„Hallo“ grüßte sie freundlich, aber etwas zurückhaltend zurück und nickte ihm zu. Edmund schaute sie sich genauer an. Sie trug eine getönte Brille, die auf eine einfache Weise Rückschlüsse zuließ. Bevor er noch etwas sagen konnte, ahnte sie, dass er die Situation durchschaut hatte. „Weihnachtsstress“, meinte sie nur und zuckte die Schultern. Bin ich Weihnachten halt ganz alleine.
Edmund Weber war erschüttert. Er fragte sich, ob er noch mehr für die junge Frau tun konnte, als ihr nur die 1200 Euro zu schenken.
„Setzen Sie sich ruhig schon“, sagte Linda in seine Gedanken hinein. „Heute nix Selbstbedienung, heute MITService. Ist ja schließlich Heiligabend. Und ich weiß ja, was Sie gern mögen.“
Beide mussten für einen Augenblick lächeln. Edmund drehte sich um und ließ seinen Blick schweifen. Das Café war menschenleer.
„Heute wird wohl keiner mehr kommen“, dachte er. „Gut, dass das nächstes Jahr kein Thema mehr für mich ist. Vielleicht beschließt der Besitzer nach den schlechten Einnahmen in diesem Jahr, dann auch nur noch bis 16 Uhr zu öffnen.“
Er dachte über die Konsequenzen, die das für Linda haben würde nach, kam aber zu dem Schluss, dass auch für sie am nächsten Heiligen Abend möglicher Weise vieles anders sein würde.
Wenn er die freie Auswahl hatte, setzte sich Edmund immer an den Tisch ganz hinten links in der Ecke. Von dort aus konnte er zum einen durch das Fenster auf das muntere Treiben auf dem Bahnhofsvorplatz schauen, zum anderen hatte er aber auch freien Blick auf Linda und konnte sie beobachten, wie sie hinter der Theke stand und den Gästen das von ihnen Gewünschte aushändigte.
Sie hatte ihm von Anfang an gefallen, weil sie den Menschen mit natürlicher Freundlichkeit begegnete und jederzeit aufmerksam und fleißig war.
Auch heute beobachtete er sie.
Zum einen war sie ihm durch die Tatsache, dass sie ihm beim letzten Mal persönlich ihren Namen genannt hatte, ein Stück weit vertrauter geworden, zum anderen verhieß der Blick aus dem Fenster in Richtung Bahnhof am heutigen Tage wenig Spannung. Nur selten fuhr ein Auto vorbei. Und mittlerweile hatten sich auch die Stadtstreicher, die er Minuten zuvor noch gesehen hatte, wohl in wärmere Gefilde zurückgezogen.
Edmund bewunderte die Sicherheit, mit der Linda den Kaffee und das Stück Schwarzwälderkirschtorte, das er immer bestellte, wenn er hier war, in Richtung seines Tisches trug.
Eigentlich wollte er sie in dem Moment, als sie Tasse und Teller auf seinen Tisch stellte, ansprechen und ihr den Umschlag mit dem Geld in die Hand drücken.
Aber gerade als sie noch ein paar Meter von seinem Tisch entfernt war, sah er im Augenwinkel eine ältere Dame aus Richtung Bahnhof auf das Café zukommen.
Irgendetwas an ihr faszinierte ihn so sehr, dass er abgelenkt wurde und sich bei Linda nur kurz bedankte, als sie Kaffee und Kuchen vor ihm hinstellte.
„Da nicht für“, antwortete sie etwas unkonventionell und ging zurück zur Theke.
Unterdessen ging die ältere Dame tatsächlich auf die Eingangstür des Cafés zu und Edmund spürte aus der Ferne einen leichten Windzug, als sie hereintrat.
„Guten Abend, Linda“, sagte sie, als sie die Theke erreichte. „Guten Abend“ antwortete Linda und nickte der Dame freundlich zu, ohne einen Namen zu nennen. Edmund schlussfolgerte daraus, dass sie sich zwar kannten, aber sich nicht sehr vertraut waren.
Die Dame blieb einen Moment lang stehen und schien ihr Gegenüber genauer zu taxieren.
„Sieht nicht gut aus“, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf das lädierte Auge von Linda.
Die nickte. „Ich weiß! Aber ist vielleicht ein Zeichen, dass es ausgerechnet heute passiert ist. Werde schon meine Rückschlüsse daraus ziehen. So geht es jedenfalls nicht weiter.“
„Treff die richtige Entscheidung! Wie sagt man so schön: Ein Ende mit Schrecken ist meistens besser, als ein Schrecken ohne Ende. Und immer dann, wenn man eine Tür schließt, öffnet sich eine Neue.“
Linda schwieg. Aber ihrem Gesichtsausdruck sah man deutlich an, dass sie verstanden hatte.
„Kaffee und Schwarzwälderkirsch“, sagte die Dame, ohne weitere Regung, inspizierte den Raum und setzte sich an einen Tisch, der in einiger Entfernung zu dem von Edmund stand.
Für sie schien es klar zu sein, dass ihr Linda die Bestellung an den Tisch bringen würde, obwohl es sich ja eigentlich um ein Selbstbedienungscafé handelte.
Edmund verwunderte das nicht besonders. Denn die Dame strahlte in ihrem Handeln und ihren Bewegungen eine gewisse Würde aus. Nicht im Sinne von „sie ist etwas Besseres“, sondern eher im Sinne von „sie ist jemand, der Menschen fasziniert“.
„Eigentlich“, so dachte er „passt sie gar nicht hier hin. Was macht sie hier an diesem Abend? Menschen wie sie müssen doch viele Freunde und eine Familie haben, bei denen sie den Heiligen Abend verbringen können.“
Aber er dachte sich auch, dass sie vielleicht gerade mit dem Zug angereist war und in diesem Café nur einen kurzen Zwischenstopp einlegen wollte, um dann ihre Familie zu besuchen. Wenngleich an dieser Theorie störte, dass sie keinerlei Gepäck bei sich hatte.
Im Kerzen- und Schummerlicht konnte er die Dame nicht sehr gut erkennen, ihre Gesichtszüge nur erahnen. Er schätzte, dass sie so etwa in seinem Alter war. Vielleicht vier bis fünf Jahre jünger. Aber wer wollte das aus dieser Entfernung schon beurteilen?
Eigentlich sah er nur ihre Umrisse. Doch das, was er sah, ließ ihn vermuten, dass es sich um eine durchaus wohlhabende Frau handeln musste. Das Armband, das sie um ihr Handgelenk trug, funkelte im Kerzenschein und sah aus der Ferne nicht gerade billig aus. Der Mantel, den sie abgelegt und über ihren Stuhl gehängt hatte, wirkte edel.
Irgendwie erinnerte sie ihn an irgendwen. Aber er wusste nicht an wen. 🤔
So, wie man es gelegentlich in vergleichbaren Situationen macht, ging er seine Alltagsszenarien durch. Hatte er sie möglicher Weise schon einmal in seiner Nachbarschaft gesehen?
Er glaubte nicht. War sie ihm schon einmal in irgendeinem Geschäft begegnet? Vielleicht bei seinem Lieblings-Discounter an seinem Wohnort? Nein, das konnte nicht sein. Dorthin hätte sie sich nach seiner Einschätzung wohl kaum verirrt.
Dann schon eher bei einem Arzt oder bei einem Juwelier?
Nicht selten kam es ja vor, dass man jemanden nur deshalb nicht erkannte, weil man ihm nicht in der unter einem vertrauten Betrachtungswinkel bekannten Umgebung begegnete. Oder weil er üblicher Weise eine andere Kleidung trug. Einen Kittel oder ein Kostüm zum Beispiel.
Doch es fiel ihm nicht ein, woher er sie kennen konnte.
Immer wieder ließ er seine Blicke wandern. Vom Blick durchs Fenster auf den mehr und mehr verwaisenden Bahnhofsvorplatz, verstohlen und vorsichtig hin zu ihr. Ihre Bewegungen schienen ihm vertraut, als sie die Tasse mit Kaffee, die ihr Linda gebracht hatte, zum Mund führte.
Wie sie sich bedächtig danach mit der Serviette die Lippen abtupfte, wie sie ihre Hände bewegte, als sie leise und für ihn nicht verstehbar mit Linda sprach, als diese für einen Moment an ihrem Tisch verweilte.
Als sie sich im Moment ihrer Ankunft an ihren Tisch gesetzt hatte, hatte sie ihm zur Begrüßung kurz zugenickt. Ob sie ihn seither anschaute oder nur gedankenversunken in seine Richtung blickte, war für ihn schwer auszumachen.
Trotzdem fühlte er sich irgendwie beobachtet.
Es behagte ihm nicht so recht. Wie sollte er im Empfinden dieser Unsicherheit sein Vorhaben, Linda zu beschenken, umsetzen?
Fast war er geneigt, seinen Plan aufzugeben. Was könnte die Dame über ihn denken, wenn sie das sehen würde? Würde sie vielleicht in die Situation hineininterpretieren, dass er, der alte Mann, etwas von Linda wollte?
Das würde ihm unangenehm sein. 😰
Doch was sollte er tun?
Er wartete ab. Aber seine Hoffnungen, dass die Dame nach kurzer Zeit aufstehen und das Café verlassen würde, zerschlugen sich immer mehr.
Sie bestellte sich ein Glas Wasser. Dann noch einen Tee.
Edmund hatte sich in der Zwischenzeit ein Glas Rotwein bestellt, das er mittlerweile zur Hälfte geleert hatte. Ein Glas von den leckeren spanischen Weinen, die er so geliebt hatte, als er es sich noch gönnen konnte, häufiger ein Tröpfchen zu genießen. Der Rioja mundete. Er genoss ihn Schlückchen für Schlückchen im Bewusstsein, dass es das letzte Glas sein würde, das er in diesem Leben trank und in der Hoffnung, dass er doch noch ein paar Minuten mit Linda allein sein könnte.
Doch die ältere Dame machte keine Anstalten zu gehen.
Schließlich ging es auf 19 Uhr 30 zu.
„Mir war es all die Jahre ziemlich egal, was Menschen über mich
gedacht haben“, überlegte er. „Warum soll ich mich damit jetzt belasten, wo ich doch nur etwas Gutes tun will?“
Als er sich das endlich bewusst gemacht hatte, winkte er Linda zu sich heran.
Sie dachte offensichtlich, er wolle zahlen und rief: „Moment, ich bringe sofort die Rechnung“.
Zunächst wollte Edmund abwinken. Doch dann ließ er sie in ihrem Glauben.
Als sie langsam näher trat, ihre Augen auf die Rechnung gerichtet, sagte er so leise, dass er hoffen konnte, dass die ältere Dame es nicht hören würde:
„Ich möchte noch nicht zahlen, sondern Ihnen etwas geben, Linda“.
Aus seiner Hosentasche zog er den gefalteten Umschlag heraus und drückte ihn ihr in die Hand.
„Frohe Weihnachten“, sagte er, „das ist ein kleines Weihnachtsgeschenk für Sie. Öffnen Sie es bitte erst zu Hause.“
Linda stutzte. Sie wusste nicht, ob sie es annehmen sollte.
Doch dann sagte sie „Danke schön. Was immer darin ist. Es ist schön, dass Sie an diesem Tag an mich gedacht haben. Möchten Sie noch etwas trinken? Es geht aufs Haus.“
„Ja, einen Espresso bitte“, erwiderte Edmund.
Eigentlich durfte er um diese Zeit wegen seiner Schlafprobleme keinen Espresso mehr trinken. Aber das war jetzt egal, bald würde er sehr lange schlafen können.
Mit oder ohne Espresso!
Seine Blicke folgten dem jungen schlanken Frauenkörper, als Linda zurück zur Theke ging, um ihm das Getränk zu holen.
Plötzlich sah er, wie die ältere Dame das Mädchen ansprach.
Linda beugte sich, an deren Tisch angekommen, zu ihr hinüber und die beiden flüsterten miteinander. Dann öffnete Linda den Umschlag.
Edmund war geschockt! Ihm fiel keine passende Reaktion ein.
Nach zwei drei Sätzen, die die beiden miteinander wechselten, ging
Linda, so als wäre nichts passiert, zur Theke, stellte ein Rotweinglas
darauf und füllte es aus der Rioja Flasche, aus der sie einige Zeit
vorher Edmunds Glas gefüllt hatte.
Edmund war hoch sensibilisiert.
Er beobachtete jede Bewegung von Linda sehr genau.
Sie nahm das Glas in die Hand und stellte es auf den Tisch der Dame.
„Ziemlich unspektakulär“, dachte Edmund noch und entspannte sich ein wenig, als die ältere Dame vom Tisch aufstand, das gefüllte Rotweinglas ergriff und sich langsamen Schrittes in seine Richtung bewegte…
„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte sie und zögerte einen Moment, während sie das Glas im selben Augenblick vor Edmund hinstellte.
„Bitte schön. Das ist für dich!“
„Von Linda?“, fragte Edmund irritiert.
„Nein, von mir, Eddy! Vielleicht verzeihst Du mir bei einem guten Glas Wein und einer wahren Geschichte, die ich dir erzählen möchte.“
Edmund schaute auf die Uhr. Das brachte seinen Zeitplan durcheinander. Aber, was sollte er tun? Er konnte diese Frau doch nicht einfach abwimmeln. Was wollte sie von ihm? Was für eine Geschichte wollte sie ihm erzählen? Woher kannte sie seinen Spitznamen?
In seine Not hinein, fiel ihm ein, dass Linda gesagt hatte, dass sie das Lokal um 20 Uhr schließen müsse. Also würde seine Heimfahrt um 20 Uhr 20 nicht gefährdet sein, wenn er sich ein paar Sätze der Dame anhörte.
„Okay“ sagte er schließlich. „Erzählen Sie!“
„Du erkennst mich nicht, Eddy?“, fragte die Dame, als sie seine Hand ergriff, die plötzlich eine angenehme Wärme durchströmte, obwohl ihre eigene Hand recht kalt war. Die Wärme kam aber nicht durch den Hautkontakt, sondern sie strömte aus seinem eigenen Herzen in seinen ganzen Körper.
„Marie?“, fragte er „bist Du es?“ 😱
Marie nickte. „Nach über 40 Jahren sind wohl ein paar zu viele Falten hinzugekommen, nicht wahr?“
Edmund legte seine andere Hand auf ihre Hand, die auf seiner lag.
„Marie… Nach so vielen Jahren. Ich hatte nicht geglaubt, dich noch einmal zu sehen.“
Doch nach der ersten Überraschung und Freude spürte er auch, wie langsam leichter Zorn in ihm aufstieg.
„Wo bist Du gewesen? Warum bist Du damals so plötzlich verschwunden? Wie konntest Du mir das antun?“
„Trink einen Schluck Wein“, sagte Marie. „Ich will es dir ja erzählen.“
Und nach einer kurzen Pause, in der Edmund einen tiefen Schluck nahm, fuhr sie fort.
„Ich war ja schon in dich verliebt, als Du im ersten Schuljahr auf der Bank vor mir saßest. Immer schaute ich dich sehnsüchtig an, aber Du hast mich ignoriert.“
„Du hast Recht! Aber wir waren noch Kinder. Mädchen waren doof und das einzige, was ich damals liebte, war mein Fußball.” 🙈
„Als unsere Grundschulzeit um war, bin ich aufs Gymnasium gegangen und habe mein Abitur gemacht, während du zur Realschule gingst. Wir haben uns aus den Augen verloren. Jeder ist seinen eigenen Weg gegangen. Bis wir uns dann viele Jahre später in dieser Stadt hier wieder begegneten.“
„Ja, ich erinnere mich. Ich habe dich damals wieder gesehen, als Du als junge Dame in einem schönen bunten Sommerkleid auf mich zu spaziertest und habe mich sofort in dich verliebt. Unendlich! Und für alle Zeit. ❤
Und Du hast gesagt, dass Du schon immer unendlich in mich verliebt warst. Wir haben uns geküsst, sind zusammen tanzen gegangen, hatten eine wunderbare Zeit. Wir haben bei billigem Lambrusco und Currywurst, was für uns jedes Mal ein Festmahl war, unsere gemeinsame Zukunft geplant und wollten alles anders und besser machen, als alle anderen.
Und dann warst Du von einem Tag auf den anderen fort. Ich habe lange gelitten wie ein Hund und dich schließlich so sehr gehasst!“
„Ach Eddy, das verstehe ich. Ich habe mich ja selber so gehasst. Aber es lief damals alles schief. 😰
Kurz bevor ich dich wieder traf – ich glaubte ja nicht mehr daran, dass es noch je etwas mit uns werden würde – habe ich einen jungen, recht wohlhabenden Amerikaner getroffen.
Peter war in Deutschland bei entfernter Verwandtschaft zu Besuch und wollte hier einfach nur Spaß haben und seine Zeit genießen.
Warum auch immer, verliebte er sich in mich, hoffierte mich und es kam, nach einem wunderbaren Fest, das wir gemeinsam besuchten, so wie es kommen musste.
Wir gingen dieses eine einzige Mal weiter, als ich mit dir jemals gegangen bin. Ein paar Tage später flog er zurück nach Amerika und dann traf ich dich. Auch bei mir brachen die alten Gefühle zu dir wieder auf. Ich fühlte mich in unsere Schulzeit zurück versetzt. Und Du musst mir glauben: Jedes Wort, dass ich damals zu dir sagte, war ehrlich gemeint. Ich wollte eine gemeinsame Zukunft mit DIR.
Als wir beide etwa vier Monate zusammen waren, stand Peter plötzlich wieder vor mir. Ich hatte geglaubt, ihn nie wieder zu sehen. Und – glaub mir – ich wollte ihn eigentlich auch gar nicht wiedersehen. Ich liebte ja nur noch dich!
Peter war nett, machte mir aber auch irgendwie ein schlechtes Gewissen. Er offenbarte mir, dass er mich immer noch zutiefst lieben würde. Er könne sich ein Leben ohne mich nicht vorstellen und wenn ich mit ihm zusammen nach Amerika gehe, würde er mir den Himmel auf Erden schenken.
Ich versuchte, ihn abzuwimmeln, sagte ihm, dass ich ihn nicht lieben würde und dass ich glauben würde, nicht mit ihm glücklich werden zu können.
So ging es lange hin und her. Bis er mir ein Versprechen gab. Er sagte, dass er mich für immer aus seinem Herzen streichen und mich gehen lassen würde, wenn ich für drei Wochen mit ihm nach Amerika gehen würde und mir anschauen würde, wie er lebte. Wenn er es in dieser Zeit nicht schaffen würde, mein Herz zu erobern, könnte gehen, wohin ich wollte. Er würde mir alles bezahlen. Ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen.
Ich dachte, dass es meine Chance wäre, auf diese Weise einen Schlussstrich zu ziehen und erklärte mich einverstanden. Und deshalb sagte ich damals zu dir, dass ich eine Studienfahrt nach Österreich machen würde und in drei Wochen zurück wäre. Ich war fest davon überzeugt, dass ich dich nach dieser Zeit wieder in die Arme schließen und Peter für immer vergessen würde.“
„Und warum bist Du dann nicht wieder zurück gekommen? Wenn Du mich doch angeblich so geliebt hast? War es dann so toll mit ihm, dass Du dich in ihn verliebt hast?“
Eddy nahm erneut einen tiefen Schluck vom Rioja.
„Blödsinn! Das wäre niemals passiert. Leider geschah etwas, mit dem niemand rechnen konnte.
Schon während des Fluges wurde mir sehr übel. In Denver angekommen, wurde ich sofort in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort stellte man dann nach einer Untersuchung fest, dass ich schwanger war.
Ich konnte es nicht fassen! Ich war doch so vorsichtig gewesen. Alles wegen einer einzigen Nacht! Aber es war nun mal passiert und nicht mehr rückgängig zu machen.
Erst wollte ich so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkommen. Dann begann ich zu überlegen, wie es dort weitergehen würde.
Wie würdest Du reagieren? Wovon sollte ich leben? Was sollte ich tun?“
„Es hätte sicherlich Wege gegeben“, erwiderte Edmund. „Es gibt immer einen Weg!“
„Ich weiß. Das habe ich mir dann ja auch gesagt. Aber kurz bevor ich Peter sagen wollte, dass ich ihn verlassen würde, wurde ich sehr krank. Ich kam abermals in die Klinik und nun konnte ich ihm das Kind nicht mehr verschweigen.
Er kümmerte sich sehr liebevoll um mich. Organisierte alles, was möglich war, damit ich wieder gesund werden würde und das Kind nicht verlieren musste. Er schickte mich in eine der anerkanntesten Kliniken des Landes. Und doch dauerte es lange, bis ich mich einiger Maßen erholt hatte.
Schließlich brachte ich ein wunderbares Mädchen zur Welt, Silke, ein wahrer Sonnenschein. Und fortan liebte Peter nicht nur mich, sondern auch unsere Tochter. Es gab keine Möglichkeit mehr zu gehen, obwohl ich es für die Liebe zu dir immer wieder in Erwägung zog.
Irgendwann kam dann ein Punkt, von dem an ich mir einredete, dass ich dich sowieso nie mehr finden würde. Ich war mir sicher, dass Du längst eine andere Frau gefunden haben würdest und dass ich keine Chance mehr hätte, mit dir zusammen zu kommen.
Schon gar nicht mit einer Tochter, die nicht deine gewesen wäre.“
„Es gab keine andere Frau in meinem Leben“, Edmund schüttelte langsam und traurig seinen Kopf.
„Es gab Frauen! Ab und zu. Für kurze Zeit! Aber irgendwie hat es nie so recht gepasst!“
Sie spürte, dass er nicht sagen konnte oder wollte, dass er sich ihretwegen ein Leben lang nicht vollständig auf eine andere Frau einlassen konnte.
„Wenn ich das geahnt hätte. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht aber auch nicht. Wer weiß, ob ich die Kraft gefunden hätte, mich von Peter zu lösen. Er hätte mich niemals mit Silke gehen lassen und ob ich ohne Silke hätte gehen wollen oder können. Wer weiß das schon.
Ich will auch ehrlich zu dir sein: Ich hatte keine schlechte Zeit. Silke und mir hat es nie an etwas gemangelt. Nur meine Gefühle, die habe ich nie betrügen können. Und meine Sehnsucht war halt hier, bei Dir, in Deutschland.“
„Und Du warst niemals zwischendurch mal in Deutschland?“, fragte Edmund.
„Nein, Peter wollte es nicht. Wir waren die ganze Zeit weder in Deutschland noch überhaupt irgendwo in Europa. Vielleicht hat er die ganze Zeit geahnt, dass mich die Sehnsucht übermannen würde und ich nicht mehr mit ihm zurückgehen könnte.
Wahrscheinlich war das der Grund!“ Marie zuckte mit den Schultern.
„Und seit wann bist Du hier? Was hat dich hierher gebracht?“
Edmund trank einen weiteren Schluck Rioja und begann, mehr unbewusst, Maries Hand zärtlich zu streicheln.
„Peter ist vor zwei Monaten gestorben. Ich habe alles geregelt, so wie ich es regeln musste. Er hat mir sehr viel Geld hinterlassen. Er wollte, dass es mir auch nach seinem Tod an nichts fehlen sollte.
Dann habe ich mich von Silke verabschiedet, die mittlerweile in New York lebt und dort eine recht erfolgreiche Künstlerin ist. Sie geht ihren eigenen Weg. Und das soll sie auch. Natürlich hat sie mir angeboten, in ihre Nähe zu ziehen.
Aber seien wir ehrlich: Einen alten Baum wie mich verpflanzt man nicht mehr. Für mich gab es nur zwei Optionen: entweder in Denver bleiben oder nach hierher zurückkehren.
Deshalb setzte ich mich vor drei Wochen in den Flieger. Ich habe meine Zelte in Amerika noch nicht abgebrochen. Kann noch zurück. Aber ich wollte das hier einfach noch mal wieder sehen. Wollte schauen, was es mit mir machen würde. Und vielleicht hatte ich auch die ganz leise Hoffnung, dich doch noch einmal zu treffen.“ 😍
„Aber, wieso bist Du denn heute Abend hier? Ausgerechnet heute?!“ Edmund schaute sie etwas irritiert an.
„Tja, wie soll man das nennen?“, sinnierte Marie. „Zufall, Glücksfall, Schicksal? Nenne es, wie Du willst. Jedenfalls war ich vor etwa einer Woche hier im Café. Es war abends, kurz bevor geschlossen werden sollte. Da setzte sich Linda zu mir an den Tisch.“
Marie schaute in Richtung Lindas, die hinter der Theke stand und die beiden diskret beobachtete und nickte ihr zu.
„Wir kamen ins Gespräch und fragten uns gegenseitig, was wir denn am Heiligen Abend machen würden.
Linda erzählte von ihren Schwierigkeiten mit ihrem Freund und ich begann, nachdem sie die Ladentür geschlossen hatte, ihr meine Geschichte zu erzählen.
Sie sagte, sie hätte am Abend eh nichts anderes vor und war sehr interessiert, mir zuzuhören. Vielleicht, so meinte sie, könnte sie in ihrer misslichen Situation noch etwas für ihr Leben lernen.
Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, fügte ich an: “Was ich am Heiligen Abend machen werde, weiß ich nicht. Vielleicht bin ich da auch schon wieder auf dem Weg nach Denver. Hier wartet doch niemand auf mich und ich würde alleine sein”.
Linda schaute mich nachdenklich an. Sie sagte: “Nach Denver können Sie immer noch zurück. Kommen Sie am Heiligen Abend doch hierher zu mir. Ich würde Ihnen gerne einen sehr netten Herrn vorstellen, der sich für den Nachmittag angemeldet hat. Keine Ahnung warum, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass sie sich gut verstehen würden”.
Nun, lieber Eddy, und so kam es, dass ich mich entschloss, heute hierher zu kommen.“
Als ich dich sah, traute ich erst meinen Augen nicht. Du warst es tatsächlich. 😱
Edmund atmete schwer. Konnte es solche Zufälle geben oder waren da am Ende doch höhere Mächte im Spiel?
Wie durch Watte hörte er Marie fragen: „Sag Eddy, hast Du heute Abend schon was vor?“
Er schluckte. „Ja eigentlich schon. Ich habe einen festen Plan. Eine Verabredung.“
„Wäre es möglich, sie abzusagen und mit zu mir zu kommen? Ich würde den Heiligen Abend nicht gern allein verbringen.“
„Ich auch nicht“, flüsterte Edmund. „Meine Verabredung läuft mir nicht weg. Die kann warten.“
„Was hältst Du davon, wenn wir Linda zu einer kleinen gemeinsamen Weihnachtsfeier einladen? Ich denke, das Mädchen kann heute ein paar Menschen gebrauchen, die ihr gut tun. Und zu essen und zu trinken werden wir im teuersten Hotel der Stadt sicherlich auch am Heiligen Abend etwas bekommen.“
Kommentarlos stand Edmund auf und half den beiden Damen in ihre Mäntel. Die beiden hakten sich bei ihm ein, und fröhlich gingen sie zusammen zum teuersten Hotel der Stadt, das nur wenige hundert Meter entfernt lag.
Es war, wie ich heute weiß, der Heilige Abend des auf die geschilderten Ereignisse folgenden Jahres, als ich selber das kleine Café, gegenüber dem Hauptbahnhof der Stadt betreten hatte, um dort meinen aktuellen Lebensfrust zu ertränken.
Eigentlich schien es mir nicht unbedingt der geeignete Ort dafür zu sein. Aber das Café lag auf meinem täglichen Heimweg vom Bahnhof, an dem ich am späten Nachmittag angekommen war, zu meiner kleinen Zweizimmerwohnung, in der ich seit einigen Wochen lebte, nachdem mich meine langjährige Partnerin “mit Nachdruck gebeten” hatte, endlich aus unserer gemeinsamen Wohnung auszuziehen.
Alles war rapide bergab gegangen, seit ich erfahren hatte, dass ich meinen Job in der Nachbarstadt im neuen Jahr nicht mehr haben würde und es Janine erzählte.
Ich hatte dieses Café in den letzten Wochen, zur Linderung meiner Einsamkeit, das eine oder andere Mal aufgesucht und bei meinem letzten Besuch erfahren, dass es heute, am Heiligen Abend, als eines der wenigen Lokale dieser Stadt etwas länger geöffnet haben würde. Tamara, die etwas proppere, etwa 45 jährige Bedienung, die seit einigen Monaten hier neu angestellt war, hatte es mir gesagt.
Ich hatte einige Zeit mit mir gerungen, ob ich am Spätnachmittag des Heiligen Abends, an dem andere Menschen sich gedanklich bereits darauf vorbereiteten, mit der Familie oder Freunden in trauter Gemeinschaft zu feiern, wirklich einen Zwischenstopp einlegen sollte.
Aber schließlich entschied ich mich, als das Café meinen Weg kreuzte, spontan dafür. Denn nichts wartete auf mich. Keine Janine, keine Familie, keine Freunde, noch nicht mal ein Christbaum in meinen vier Wänden.
Es waren kaum noch Gäste im Café und die letzten schienen sich auch schon im Aufbruch zu befinden, als ich mich an einen der vielen freien Tische setzte und mir bei Tamara einen Rioja bestellte. Zunächst genoss ich den Geschmack des dunklen schweren Rotweines. Doch mit jedem Schluck mehr, den ich trank, sank meine Stimmung näher gegen den Nullpunkt.
Ich hatte nichts geplant. Aber auch am Heiligen Abend würden am Hauptbahnhof sicherlich noch Züge fahren, vor die man sich werfen konnte…
Als der alte Mann, nein, sagen wir lieber „ältere Herr“, der sich irgendwann im Rahmen meiner sich verstärkenden Schwermut unaufgefordert an meinen Tisch gesetzt hatte, die Erzählung seiner Geschichte mit den Worten:
“Sie werden es nicht glauben, aber wir bekamen am Heiligen Abend im teuersten Hotel der Stadt auf unseren Wunsch hin tatsächlich Currywurst und einen Lambrusco, unser Festmahl, serviert” beendete, schaute ich ihn lange wortlos an.
„Warum haben Sie gerade mir diese Geschichte erzählt?“
„Weil Sie der Einzige waren, der hier war“.
Er lachte.
„Und, weil Sie so aussahen, als könnten Sie einen Rat gebrauchen.“ 😎
„Welchen Rat?“ fragte ich.
„Dem Leben seinen Rhythmus vorgeben zu wollen, funktioniert nicht!“, sagte der ältere Herr. „Man weiß nicht, WAS es WANN für einen bereithält. Aber es ist immer für eine Überraschung gut.“
Mir fiel spontan keine Antwort darauf ein.
„Ich werde jetzt nach Hause gehen. Würden Sie mich zu einer kleinen Weihnachtsfeier begleiten?“ fragte er.
„Marie und Linda würden sich über ihren Besuch sicherlich sehr freuen.“
© Ralf Theinert
THE END in Bines Thermi-Welt 🎀